Lange Zeit galt Corippo als kleinste Gemeinde der Schweiz, ein Miniaturdorf im Tessiner Verzascatal. Durch die Fusion mit Vogorno, Lavertezzo, Brione, Gerra, Frasco und Sonogno zur politischen Gemeinde Verzasca 2020 musste es diesen Titel abgeben. Auf einer Fläche von 7.7 km2 beherbergte die Gemeinde zuletzt nur noch zehn Einwohner, nahezu alle von ihnen im Rentenalter. Von den 70 Rusticos, den typischen Steinhäusern, sind weniger als zehn ganzjährig bewohnt. Knapp die Hälfte sind Ferienhäuser, die nur im Sommer genutzt werden, der Rest steht leer und verfällt vor sich hin. Es war und ist nach wie vor ziemlich einsam hier.
Doch damit soll jetzt Schluss sein. Eine Stiftung hat sich zum Ziel gesetzt, die alten Gebäude zu erhalten, und mit dem Projekt «albergo diffuso» der kleinen Ortschaft neues Leben einzuhauchen.
Albergo diffuso: ein Konzept zur Regionalentwicklung
Das pittoreske Bergdorf teilt sein Schicksal mit vielen anderen Gemeinden. Es führt einen fast aussichtslosen Kampf gegen die Abwanderung und ist vom Aussterben bedroht. Auch in Italien, vor allem in der Region Friaul und in den Abruzzen, gibt es reihenweise von Erdbeben zerstörte Dörfer, die von ihren Einwohner:innen verlassen wurden. Der italienische Tourismusberater Giancarlo Dall’Ara wollte diese menschenleeren Dörfer, von denen es Tausende in Italien gibt, nicht mehr länger hinnehmen. Die Borghi fantasma, die Geisterdörfer, mussten wiederbelebt werden.
So entstand das Konzept «Albergo Diffuso». Durch die Vermietung von Ferienwohnungen oder Zimmern können die Hausbesitzer ihre Kosten für die Instandsetzung der Häuser wieder zurückholen. Die Gäste in den übers ganze Dorf verteilten Zimmern können zusätzlich die Annehmlichkeiten und typischen Services eines Hotels genießen. Es handelt sich um eine Form des sanften und nachhaltigen Tourismus, bei dem die Touristinnen und Touristen ins Dorfleben integriert werden. Sie sind im Dorf zu Hause, wohnen Tür an Tür mit der lokalen Bevölkerung und können Kontakte knüpfen.
Diese Idee von Giancarlo Call’Ara hat sich in Italien durchgesetzt. Mehr als 100 solcher Albergi Diffusi gibt es mittlerweile in Italien. Entscheidend dabei ist, dass der historische Stil des Ortes erhalten bleibt. Deshalb sind nur Umbauten, aber keine Neu- und Anbauten erlaubt. Wichtig ist, dass die Bevölkerung selbst die Initiative ergreift und in die Erhaltung des Dorfes investiert. Die Gäste wiederum müssen einen Ansprechpartner vor Ort haben und eine Möglichkeit, sich zu verpflegen.
Corippo im Verzascatal wird zum Albergo Diffuso
Das Dorf liegt hoch über der Verzasca, dort, wo sie langsam in den den Stausee Lago di Vogorno übergeht. Die Kirche wirkt überdimensioniert. Um sie herum gruppieren sich die typischen Steinhäuser aus Granit. Sämtliche Rustici sind nach Südosten ausgerichtet. Corippo ist ein architektonisches Juwel, das 1224 erstmals urkundlich erwähnt wurde. Der Dorfkern steht unter Denkmalschutz. Diese Idylle schätzen vor allem diejenigen, die nicht dauerhaft hier leben müssen.
So wie im Val Bavona betrieben die Menschen eine Wanderweidewirtschaft (Transhumanz). Je nach Jahreszeit nutzte man die unterschiedlichen Höhenstufen von den Ebenen des Lago Maggiore bis hin zu den Hochalpen. Und so war auch Corippo früher nicht durchgehend besiedelt, war lediglich ein temporärer Wohnsitz. Das spiegelt sich in den winzig kleinen und engen Häusern wider. Fehlende Heizungen und sanitäre Einrichtungen machten das Leben in den kleinen Rustici in den letzten Jahrzehnten immer unattraktiver.
Schließlich hat die Fondazione Corippo 1975 versucht, das Dorf ganz vor dem Aussterben zu bewahren und die historische Siedlung zu erhalten. In Anlehnung an das italienische Konzept der Albergi Diffusi sollte das rustikale Dörfchen im Rahmen eines nachhaltigen und ganzheitlichen Projekts revitalisiert werden.
Die Stiftung erwarb die ehemalige Osteria und mehrere Häuser in Corippo. Weil die Häuser nicht einfach an den ältesten Sohn vererbt, sondern unter den Kindern aufgeteilt wurden, war das ein schwieriges Unterfangen. Die Eigentümer waren zusätzlich oftmals in der ganzen Welt verstreut. Die Gebäude waren in einem denkbar schlechten Zustand, dunkel, verfallen, schimmelig und modrig. An einem anderen Ort hätte man sie wohl abgerissen. Hier verbietet das der Denkmalschutz. Dieser erlaubt weder eine Vergrößerung der Fenster noch ein Zusammenlegen von Häusern.
Die Instandsetzungs- und Umbauarbeiten begannen im Mai 2020. Jetzt nach der Renovierung beherbergt das Gebäude des Dorfgasthauses neben dem Speiseraum auch die Hotelrezeption. In fünf Wohnhäusern entstanden bislang zehn Hotelzimmer. Zwei Gebäude werden dauerhaft vermietet.
Die Zimmer in der außergewöhnlichen Unterkunft
Alle Zimmer sind einzigartig, da sich die Gestaltung an den historischen Grundrissen und Gegebenheiten orientieren musste. Vielfach blieben die alten Balkone, die Holzbalkendecken sowie die ursprünglichen Holztüren und Fensterläden erhalten. Die Zimmer erhielten einen Eichenparkettboden und winzig kleine Nasszellen, manche haben ein Gemeinschaftsbad. Von meinem Zimmer Casa Angiolina IX könnte ich einen wunderbaren Talblick genießen, wenn das Wetter mitspielen würde.
Die Ausstattung konzentriert sich auf das Wesentliche, großen Luxus darfst du nicht erwarten. Der Platz für Kleider ist beschränkt. Ein Föhn ist vorhanden, einen Fernseher gibt es nicht. Die Elemente aus OSB-Platten und das eigenwillig moderne Design der Badezimmer sind Geschmacksache. Mich holen sie nicht ab. Dafür schätze ich das rustikale Flair, die schweren Vorhänge und die liebevollen Details, die die Gäste im Zimmer erwarten. Frisches Obst, eine Flasche Wasser, ein Sträußchen Trockenblumen stehen am Fenstersims für mich bereit. Im Badezimmer finde ich eine kleine Seife und festes Shampoo. Diese Naturprodukte darfst du mit nach Hause nehmen.
Küche und Restaurant
Die wirkliche Überraschung im Albergo sind die Osteria und das Essen. Der Koch Jeremy ist Mitglied der Cook’s Alliance von Slow Food CH. Dabei handelt es sich um ein Netzwerk von Köchinnen und Köchen, die lokale und saisonale Zutaten verarbeiten und mit Produzent:innen aus der Region zusammenarbeiten. Ein Blick in die Speisekarte zeigt, dass diese Philosophie Ernst genommen wird. Jeremy konnte Erfahrungen in verschiedenen Sterne-Häusern sammeln, bevor er und seine Frau als Pächter das Projekt Albergo Diffuso im Tessin zum Leben erweckten. Das, was auf die Teller kommt, ist erstklassig. Es sind nicht nur Hotelgäste, die hier zum Essen kommen.
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Wer im Dorf übernachtet, hat die Möglichkeit, Halbpension zu buchen und bekommt abends ein Drei-Gänge-Menü. Es mag befremdlich klingen, aber mein Highlight ist tatsächlich das knusprige Brot mit Olivenöl, das vor dem Essen gereicht wird. Von der Maronisuppe bin ich ebenfalls restlos begeistert. Die Desserts sind mir etwas zu mächtig und an beiden Tagen unseres Aufenthalts sehr ähnlich. Aber ich mag generell nicht gerne Süßes. Am ersten Abend gibt es einen geschlossenen Anlass, sodass wir im Aufenthaltsbereich bei der Rezeption essen. Sowohl dieser Raum als auch der Speisesaal der Osteria sind sehr geschmackvoll eingerichtet. Mit dem offenen Kaminfeuer meint man es etwas zu gut. Aus unserer Sicht ist es in beiden Gemeinschaftsräumen viel zu warm.
Beim Frühstück erwarten uns ein Brotkorb, Butter, Marmelade und Honig sowie Joghurt mit hausgemachtem Müsli und Früchten. Zusätzlich im Angebot sind Eierspeisen, Käse oder Wurst und viele Kaffeespezialitäten. Die Qualität der Produkte ist sehr gut. Bei einem längeren Aufenthalt wäre etwas mehr Abwechslung wünschenswert.
Wichtige Hinweise
Die vielen Treppen und die Gassen mit Pflastersteinen machen zwar den Charme des Bergdörfchens aus, für Personen mit Gehbehinderung ist ein Aufenthalt aber nicht zu empfehlen. Weder Ort noch Hotel sind barrierefrei. Wie zu erwarten, ist die Parkplatzsituation vor Ort etwas schwierig. Für Gäste des Albergo stehen einige wenige Parkplätze in etwa 250 Metern Entfernung zur Verfügung. Die Einstellplätze sind allerdings so eng bemessen, dass sie für moderne Fahrzeuge nicht geeignet sind. Sobald wie in unserem Fall jemand nicht ganz rücksichtsvoll parkt, wird es unmöglich auszusteigen oder überhaupt ohne Schäden in die Parklücke zu kommen.
Insgesamt fühlen wir uns so wie versprochen als Besucher des Dorfes und nicht nur des Hotels. Das Dorfleben selbst spüren wir allerdings nicht, da wir keine Einheimischen antreffen. Das mag am Wetter und an der Jahreszeit liegen. Beim Streifzug durch die Gassen sind wir alleine, kommen vor allen an leerstehenden Häusern vorbei.
Beachte, dass die Buchungskonditionen nicht unbedingt kundenfreundlich sind. Gemäß Geschäftsbedingungen ist ein Aufenthalt weniger als sieben Tage vor Ankunftsdatum nicht mehr stornierbar. Das betrifft auch eine Verschiebung. Eine Terminänderung stellt keine Änderung der Reservierung dar, sondern eine Stornierung der ursprünglich reservierten Termine.
In unserem Fall bedeutet das, dass wir in den sauren Apfel beißen müssen. Für das Wochenende sind sintflutartige Regenfälle mit bis zu 90 mm Niederschlagsmenge in der Region angekündigt. Wir hätten die Buchung zwar stornieren können, aber das Geld nur zurückbekommen, wenn man die Zimmer für die Daten unseres Aufenthalts tatsächlich nochmals hätte vermieten können. Die Aussichten dafür wären gleich null gewesen. Ich habe Verständnis dafür, dass man versuchen muss, so einen Betrieb rentabel zu führen. Mit über CHF 200.– pro Nacht für Zimmer&Frühstück ist die Unterkunft für das Gebotene jedoch kein Schnäppchen. Die stolzen Zimmerpreise sind etwas für Liebhaberinnen und Liebhaber der Idee. Und so bleiben letztendlich ein wenig Enttäuschung und ein etwas fahler Nachgeschmack zurück.
Aufgrund des schlechten Wetters fällt unser geplantes Wanderwochenende im wahrsten Sinne des Wortes ins Wasser. Als Ersatzprogramm geht es am Samstag nach Mailand. Dort ist es trocken und erstaunlich warm. Wir nutzen die Zeit für einen Einkaufsbummel und einen Campari Spritz in der Camparino am Domplatz. In Corippo ist es hingegen äußerst trostlos. Bei dem Wetter jagt man sprichwörtlich keinen Hund vor die Türe. Dass die Gassen des Dorfs den Hotelflur darstellen, ist in dem Fall eher ungemütlich.
Valle Verzasca
Immerhin zeigt sich am Sonntagmorgen kurz die Sonne. Und da es bis in den Nachmittag hinein trocken bleiben sollte, nutzen wir die Gelegenheit von Sonogno nach Brione zu wandern und Lavertezzo einen Besuch abzustatten.
Lavertezzo mit der berühmten Ponte dei Salti, der zweibögigen Steinbrücke aus dem Mittelalter, ist wohl der bekannteste Ort im Verzascatal. Die Verzasca mit ihrem kristallklaren und smaragdgrünen Wasser ist hier besonders schön und lädt im Sommer zum Baden ein. Die Dorfkirche und die gesamte Szenerie sind ein beliebtes Fotomotiv. Jetzt im Oktober 2023 ist die Kirche leider eingerüstet und somit nicht unbedingt fotogen. Dafür werden wir mit einer mystischen Morgenstimmung belohnt. Nach den starken Regenfällen der letzten Tage steigen langsam Wolken und Nebel auf. Die Sonne, die langsam über den Bergkamm steigt, taucht alles in ein wunderbares Licht.
Sonogno ist das hinterste Dorf im Verzascatal. In der Hochsaison geht es hier sehr touristisch zu und her. Die meisten Rustici sind renoviert und richtig herausgeputzt. Trotzdem konnte sich Sonogno sein charakteristisches Ortsbild erhalten. Wir schlendern über die Piazetta und durch die Gassen bis hin zum alten Brotbackofen, der heute noch in Betrieb ist. Die Wanderung hinunter nach Brione ist sehr einfach. Weil der Weg nass ist und wir sogar über umgestürzte Bäume klettern müssen, ist das auch gut so.
Aus Zeitgründen – wir müssen am Sonntag noch die Heimreise antreten – unterbrechen wir die Wanderung in Brione und fahren mit dem Postauto nach Lavertezzo zurück. Dennoch ist dies ein versöhnlicher Abschluss.
Carola ist eine passionierte Teilzeitnomadin, verbindet Vollzeitberuf mit Reiselust. Sie ist der Kopf hinter Travellingcarola.
Seit 2016 schreibt sie authentische Reiseberichte über einzigartige Erlebnisse, gibt praktische Tipps und will andere inspirieren, die Welt zu entdecken.
Liebe Carola,
ich kenne solche Dörfer von der italienischen Seite am Lago Maggiore oder Comer See. Die Häuser sind wunderbar anzusehen. Ein Charme der seinesgleichen sucht. Ich mag deine Beschreibung mit den Vorteilen aber auch den Nachteilen bei einem Aufenthalt. Sicher beim passenden Wetter sehr reizvoll. Ich habe mich gefragt, ob die Zimmer beheizt sind.
Ein Aufenthalt ist für mich reizvoll.
Herzliche Grüße
Thomas
Hallo Thomas
Ja, ein bisschen früher im Jahr und bei gutem Wetter ist so ein Aufenthalt sicherlich perfekt. Ursprünglich war geplant, dass die Zimmer nicht beheizt werden und das Albergo im Oktober schließt. Tatsächlich gibt es jetzt Radiatoren und zum Teil Schwedenöfen in den Zimmern.
Liebe Grüße
Carola